Der Referent

Im "Rudel" zu singen ist IN, nicht nur in Münster. 1.5 Stunden vergehen wie im Flug beim gemeinsamen Singen von gängigen Pop Songs, Gospels und Kirchentag Hits in humorvoller und auch spirituell anregender Athmosphäre.

Seit vielen Jahren biete ich interessierten Chören Workshops an. Gospel-, Pop- oder Projektchöre lernen unter fachmännischer Anleitung an einem Wochenende von Freitagabend bis zu einem Konzert oder der Mitgestaltung eines Gottesdienstes am Sonntag neue musikalische Literatur kennen. Auch viele Bands, instrumental Combos oder Lobpreis Ensembles werden von mir in Wochenend-Workshops geschult. Denn als erfahrener Studiomusiker, Musical Director oder Produzent kann ich ihnen wichtige Tipps mit auf den Weg geben.

Ein großer Teil meiner kreativen Arbeit dreht sich um „Musik im Gottesdienst". Wohl wissend, dass dieses riesige Aufgabenfeld durch schwergewichtige kirchenmusikalische Diskussionen häufig sehr kontrovers in den Gemeinden erlebt wird, steht für mich die Glauben stärkende, Gott lobende und nachdenklich stimmende Komponente der Musik im Vordergrund. Gemeinsames Loben mit neuen Liedern, unter die Haut gehenden Texten bei kraftvoll-sensibler und grooviger Pianobegleitung – inklusive einer inspirierenden Predigt – so lässt sich mein musikalisches Programm im Gottesdienst zusammenfassen. siehe auch den nachfolgenden Artikel

Laut Google haben sich Theologen, Musiker, Philosophen und andere „Normalos“ mit 937.000 Einträgen im Internet zum Thema „Spiritualität und Musik“ geäußert. Braucht es noch einen weiteren Artikel zu dem Thema - und dazu noch von einem Popkantor?       Wie in einem Mega „Deichmann“ oder „Salamander“ Schuhhaus stehe ich vor viel zu vielen und vor allem zu großen Schuhen, um in diesen weiter zu laufen und dabei Neues zum Thema zu denken. Vielleicht hilft mir wie so oft die Besinnung auf „meine Schuhgröße“ und die Beschränkung auf den eigenen Stil. Und dieser ist - auch nach meiner klassischen Ausbildung und deren uneingeschränkter Wertschätzung - zum großen Teil von populärer Musik geprägt.

 

Bei der Arbeit an einer Reportage über die harten Lebensbedingungen von Obdachlosen in London ereignet sich ein beeindruckendes Beispiel der gegenseitigen Beeinflussung von Spiritualität und Musik. Der englische Musiker und Komponist Gavin Bryars erinnert sich:

„Im Jahr 1971 arbeitete ich mit einem Freund an einem Film über Obdachlose in London. Wir nahmen viele Obdachlose auf, die meisten sangen uns in ihrem Suff Opernarien oder Balladen. Einer aber, nüchtern und mit einer Ausstrahlung wie Charlie Chaplin, trat vor die Kamera und sang: „Jesus Blood never failed me yet. This one thing I know, for he loves me so ...“  – "Jesu Blut hat mich nie enttäuscht, ist mir nie versiegt. Das Eine weiß ich, denn er liebt mich so ...“

Die Szene mit diesem Lied wurde verworfen. Ich bat um das Abfallmaterial und extrahierte die Tonspur in Leicester, wo ich Zugang zu einem Tonstudio in der Kunsthochschule hatte. Ich ließ die Passage mit dem Lied als Endlosschleife auf ein Tonband spielen. Um mir die Zeit zu vertreiben, ging ich unterdessen in ein Café, während das Band immer und immer wieder lief. Die Tür zum Studio hatte ich versehentlich offen gelassen. Als ich nach gut einer halben Stunde wieder kam, herrschte im Studio und den angrenzenden Räumen eine seltsame Atmosphäre.

Die Leute, die dort ein und ausgingen, liefen leise und langsam durch die Gänge. Einige saßen an ihren Schreibtischen und weinten. Ich habe den Loop mit Orchestermusik und Chor unterlegt und auf eine Schallplatte aufgenommen, später auf eine CD unter maximaler Auslastung ihrer Möglichkeiten.“

Seit über 40 Jahren kursiert „Jesus blood never failed me yet“ im digitalen Netz. Und überall auf der Welt bewegt die nach „zahnlosem Mund“ klingende und mit brüchiger Stimme gesungene Melodie Menschen in jedem Alter. Die Kombination eines fast kindlich anmutenden Glaubensbekenntnis mit einer vom Leben gebrochenen Stimme entfaltet in dem Arrangement mit Loop und Streichorchester eine ungeheuere emotionale Wirkung. Spirituelle Musik - „zufällig“ aufgenommen irgendwo in der Nähe von Victoria Station in London ... 

Ein ähnliches Phänomen erleben Christen unterschiedlichster Couleur beim Singen und Musizieren von Taizé Liedern. Kurze und einstrophige Lieder werden in schlichten Chorsätzen vielfach wiederholt, bieten Raum für improvisierte Instrumentalstimmen und

lassen sich in fast allen gängigen europäischen Sprachen singen. Die kurzen Texte basieren meist auf einer Bibelstelle und werden durch die fast rituellen Wiederholungen als intensives Herzensgebet erlebt. 

Ein weiteres Beispiel für spirituelle Erfahrung durch Musik aus meiner musikalischen Praxis: in vielen Gospelkonzerten erlebe ich, dass es nicht unbedingt die „heißesten und groovigsten“ songs sind, die die Zuhörer berühren. Nach Liedern wie „Hallelujah“ von Leonhard Cohen oder „You raise me up“ von Rolf Lovland oder „Total Praise“ von Richard Smallwood entsteht ein fast greifbares emotionales „Knistern“ - man wiegt sich im Takt, summt mit und erlebt die oft einfachen Melodien und Harmonien als „Therapie für die Seele“. Die pentatonische „Urmelodie“ des „Hallelujah“ lädt zum Mitsingen ein und es ereignet sich niederschwelliges Gotteslob - auch im Schatten eines „feuerzeugschwenkendem“ Wir - Gefühl. 

„You raise me up“ ist für mich der Prototyp eines säkularen Songs mit der spirituellen Weite eines Gebets - egal, ob das die Intention des Texters Brendan Graham war oder nicht. Die Interpretation, dass Gott „mich erhebt“, meinem Leben seine Bestimmung gibt und ich stark „auf oder an seiner Schulter“ sein kann ( vgl „Magnificat“ ), bewegt die Zuhörer in der Kombination mit einer Melodie, die man allerdings auch aus anderen Liedern zu kennen meint. 

Mit „Total Praise“, einem Gospel Klassiker, beschließen wir seit Jahren unsere Konzerte - eine langsame Vertonung des Psalmwortes „Ich erhebe meine Augen zu den Bergen von welchen mir Hilfe kommt“. Harmonisch zwischen Spätromantik und Jazz angesiedelt, endet der song nach einem immensen dynamischen Bogen in ein breites, polyphones „Amen“. Großartiges Gotteslob, hoch emotional entführt diese Musik in einen spirituellen Raum der Gottesbegegnung.

In den letzten Jahren ist auch in der deutschsprachigen Popmusik ein deutlicher Trend zu spirituellen und oft auch fast seelsorgerlichen Texten zu erkennen. „Still“ von Jupiter Jones oder „Geboren um zu leben“ von Unheilig sind großartige Texte zum Thema Abschied und Trauer, „So soll es bleiben“ von Inga Humpe ( Ich&Ich ) ein wunderbarer song über Ewigkeit und Sehnsucht nach Vollkommenheit. Mit „Irgendwas bleibt“ von Silbermond, „Halt aus“ von Moses Pelham oder „Steh auf, wenn du am Boden bist“ von den Toten Hosen sprechen die Musiker Tausenden von Zeitgenossen Hilfe und Solidarität zu bei dem Bedürfnis nach Sicherheit und Durchhaltevermögen, wenn‘s eng wird. 

Die Liste ließe sich beliebig lange fortsetzen und damit der Beleg, dass Musiker - und hier im engeren Sinn Popmusiker - häufig das Ohr „beim Volk“ haben. Und dass der merkantile Erfolg der Musik mit dieser Fähigkeit, denken und ausdrücken zu können, was in vielen Köpfen schlummert, eine Symbiose eingeht. Es gibt Stimmen, die in diesem Zusammenhang schon von den „neuen Propheten“ sprechen, wenn man darunter Menschen mit der Fähigkeit versteht, in konkrete Situationen hinein Wichtiges, Richtiges und Hilfreiches zu sagen.( vgl Bob Dylan )  So ist z.B. in den WDR Morgenandachten immer öfter ein song und im Besonderen der Songtext die Initialzündung für hilfreiche und Glauben weckende oder stärkende Impulse für den Tag - eine großartige Symbiose von Spiritualität und Musik.

 

Auch wenn in einer Zeit esoterischen Hochkonjunktur ein Begriff wie „Klangraum der Seele“ leicht die Aufmerksamkeit auf exotische Nebenschauplätze lenkt, möchte ich ihn hier als Synonym für Musik gebrauchen. Und weil in diesem Klangraum häufig unsere „emotionalen basics“ wie Fröhlichkeit, Traurigsein, Wut, Klage und Liebe und Lust stimuliert werden, lässt sich leicht nachvollziehbar von einer „Erfahrung des Göttlichen“ im Zusammenhang mit Musik sprechen. Fragt man nach den Gründen für das Bedürfnis, große und wichtige emotionale Momente des Lebens musikalisch auszudrücken und zu begleiten, lohnt sich ein Streifzug durch das alte und neue Testament. Hier wird deutlich, dass Musik und Gesang bereits in biblischen Urzeiten ein wesentliches Element der Gottesbegegnung war. Die Aufforderung  zum „Singen und Spielen“ wurde lange vor den ersten Karaoke, Song-Contests und „Sing Dein Lied“ Fernsehformaten formuliert. Ist es nur Zufall, dass das umfangreichste Buch der Bibel ein „Liederbuch“ ist ? Dabei beschränkt sich der Liederschatz aber nicht nur auf die „Psalmen“. Gesungen wurde in allen emotionalen Lebensphasen mit Liebesliedern (Hohelied), Protestliedern ( Jes.5, 1-7), Kriegs - und Triumphliedern ( Ex 15 ), Arbeitsliedern ( Num 21,17-18 ), Klageliedern, aber auch Spott - und Trinkliedern ( Num 21,27-30 / Jes 22,13 ).

Auch wenn das Neue Testament keine explizite eigene Liedersammlung aufweist, belegen viele Schriftstellen, dass die Texte der Psalmen weiter gesungen wurden. Darüber hinaus bezeugen Lieder wie der Lobgesang Maria‘s (Magnificat), der große Christushymnus, den Paulus im Brief an die Philipper zitiert, der Schöpfungshymnus aus Kol 1 und das Lied der Befreiten aus Offb.22 die enge Verbindung von Musik und Glauben. Bei einem sehr globalen Überblick der Musikgeschichte fällt der große Anteil an geistlicher, spiritueller Musik zur Zeit der Gregorianik über die Renaissance bis ins Barockzeitalter als prägend ins Gewicht. Auch wenn die geistliche Musik durch Schütz, Monteverdi, Händel, Bach oder Telemann im Barock ihre Blütezeit erlebte, wurde sie im Laufe der Klassik, Romantik und Moderne immer mehr von der weltlichen Musik in ihrer Bedeutung überlagert. Dieser Trend hält bis zur heutigen Zeit an -  auf die begleitenden kunst - und gesellschaftshistorischen Entwicklungen sei in diesem Zusammenhang nur hingewiesen. Auf der riesigen und farbenfrohen Palette der heutigen Musik in ihren unterschiedlichsten Stilistiken, Adressaten, Künstlern und Interpreten führt die geistliche oder „christliche“ Musik ein Nischendasein.

Da ich aber keinem massenkompatiblen Wettbewerb der Musiksparten das Wort reden will, sei in diesem Zusammenhang Folgendes resumiert:

Durch zwei Jahrtausende hindurch haben Menschen ihrem Glauben, ihrer Hoffnung, ihrer Klage und ihrem Lobgesang musikalischen Ausdruck durch Gesang und instrumentale Klangfarben gegeben und es scheint, als wäre der Ausdruck ihrer gesungenen Gebete und ihrer musikalischen Anbetung ein Ventil zu einer intensiveren Gotteserfahrung. 

Wir haben uns durch die lange Geschichte der christlich-geistlichen Musik an an einen fast selbstverständlichen Dualismus von Glauben und musikalischer Praxis gewöhnt. Dass aber diese gegenseitige Befruchtung ein immenser Schatz des spezifisch christlichen Glaubens ist, wird bei einem vorsichtigen Seitenblick auf die Rolle der Musik z.B. im Islam deutlich. Seit den Anfängen des Islam im siebten Jahrhundert streiten sich Rechtsgelehrte und Theologen über die Vereinbarkeit von Musik und Religion. Kritische Stimmen reden von der Unvereinbarkeit mit den islamischen Prinzipien von Bescheidenheit und Sittsamkeit. Deswegen gilt die Musik in fundamentalistischen Kreisen der islamischen Gesellschaft als „Haram“ - als Sünde. (s.Diskussion Musik - Islam im www )

 

Mit einigen persönlichen Schlussfolgerungen aus den oben angesprochenen Erfahrungen und Überlegungen möchte ich - im Zusammenhang mit meinem neuen Amt als Popkantor des Kirchenkreises Münster - folgende Aufgaben in den Focus meiner Arbeit nehmen.

  • Die Aufforderung aus den Psalmen „Singt dem Herrn ein neues Lied“ darf gern konkret verstanden werden. Auf dem immensen Schatz geistlicher Lieder sollen wir uns nicht ausruhen. Komponisten, Texter, singer-songwriter und Lobpreisleiter - schreibt neue Lieder, die sich in ihrer musikalischen und textlichen Stilistik auch an gängigen Pop Songs orientieren können - dabei aber nicht nur „kopieren“ und bei allem Ringen um „Verstanden - werden“ musikalisch eigenständig bleiben und theologisch und inhaltlich wohl gewogen zum emotionalen Ventil für Viele werden.
  • Die Trennung von „säkularer“ und „geistlicher“ Musik birgt die Gefahr eines Ghetto Daseins. Warum kann ein Lied wie „Liebe ist“ von Nena anlässlich einer Trauungszeremonie nicht mit „AmazingGrace“, „Anker in der Zeit“ oder auch „Only you“ kombiniert werden ? Wie gut täte es einem Choral wie „Ein feste Burg“, wenn er durch „Irgendwas bleibt“ ( „Gib mir ´n kleines bisschen Sicherheit“ ) von „Silbermond“ ergänzt werden könnte und eine sprachliche und musikalische Ebene aus unserer Zeit mit barocken Vorbildern in einen spannenden Dialog tritt. 
  • Ich wünsche mir „Rudel -Singen“ im kirchlichen Raum. Warum wird dieses in vielen Städten aufbrechende Phänomen mit der Lust am musikalischen „Wir Gefühl“ einigen cleveren ( und guten ! ) Alleinunterhaltern überlassen? Wo sind die Überlegungen, in unseren offenen Kirchen zum Singen von Kirchentag Hits, gängigen Top 40 Hits, Abendliedern, Volksliedern und niederschwelligen Worship Songs zu mixen ? „Singen ist Glückssache“ - wie wahr !
  • Kulturelle Grenzen werden beim Gospel, beim Singen von „Hillsong“ Liedern oder anderen worship Klassikern aus England und den USA aufgehoben. Das Verständnis für den globalen Leib Christi mit seinen kulturellen Unterschieden macht mich dankbar und oft genug bescheiden. Die Ergänzung eines lediglich „korrekten“ Singens mit Emotionalität und Groove belebt und führt z.B. bei vielen Sänger/innen in Gospelchören zu einer enormen Bereicherung der persönlichen Spiritualität.
  • Mit „Night of the Hymns“ möchten die Veranstalter gemeinsames Singen großer Hymnen mit orchestralen Klangfarben fördern. Als Vorbild dient in England die Veranstaltung „Prom‘s Praise“ - was seit vielen Jahren tausende Zuhörer und Mitsänger aus allen Generationen in den Londoner Royal Albert Hall lockt.
  • Durch ihre Pop Oratorien „10 Gebote“, „AmazingGrace“ oder auch „Luther“ schafft die Creative Kirche/ Witten eine Plattform für Tausende begeisterte Mitsänger/innen, die in einer hochprofessionellen Aufführung mitwirken können. Projekte mit einem „offenen Rand“, wo sowohl gestandene Christenleute aus tiefstem Herzen und Glauben singen wie auch kirchen - und glaubensferne Skeptiker das Gemeinschaftsgefühl schätzen, feiern und dabei oft genug wesentliche Glaubenserfahrungen machen.

 

Schließen möchte ich mit der ersten Strofe und dem Refrain des großartigen Liedes „Urklang“ von Albert Frey.

Eine emotionale Zusammenfassung der oben skizzierten Gedanken zum Thema „Spiritualität und Musik“

Aus der Tiefe, fast verschüttet, dringt der Klang der Ewigkeit, 

von den Vätern, von den Müttern überbracht seit langer Zeit:

Frohe Botschaft, fast verloren, hart umkämpft, doch nie besiegt,

Gottes Wort im Fleisch geboren. 

Dort erklingt sein Liebeslied, mitten im Kampf sein Liebeslied.

 

Hör den Urklang, hör den Ruf,

Wort im Anfang, das uns schuf.

Fühl den Herzschlag in der Brust,

Schöpfergeist, weck Lebenslust, Liebesglut und Kampfesmut.

 

 

 

Hans Werner Scharnowski, August 2015